Vom Essen zum Genießen: Warum der Genuss so wichtig ist

Essen ist so viel mehr als einfach nur Nahrungszufuhr und Nährstoffaufnahme. Wäre es nicht so, könnten wir diese lebenswichtige Tätigkeit schnell und problemlos mit Hilfe von Tabletten oder Astronautennahrung verrichten. Das funktioniert jedoch immer nur für einen begrenzten Zeitraum. Was wohl jeder nachvollziehen kann, der schon einmal für eine gewisse Zeit eine besondere Diät befolgen wollte oder musste. Denn sobald wir das Essen auf eine rein ernährungswissenschaftliche Ebene reduzieren, fehlt uns etwas ungeheuer Wichtiges: der Genuss! – Von Gerhard Pfeffer

Ein sehr alter und immer noch gültiger Spruch lautet: „Der Mensch ist, was er isst!“ Dass Magen und Hirn zusammengehören, wussten schon die alten Philosophen und Denker wie etwa Platon. Heutzutage gibt es sogar einen eigenen Studiengang, die Gastrosophie (die Weisheit des Magens), welche sich wissenschaftlich mit all den Gesamtzusammenhängen rund um die Nahrungsmittelerzeugung und Nahrungsaufnahme beschäftigt. Im Diskurs stehen dabei alle Fragen, wie wir essen, was wir essen, woher wir unsere Nahrungsmittel beziehen und welche Konsequenzen bestimmte Produktionsmethoden haben. Dem Genuss kommt dabei eine besondere Stellung zu!

Der Wert des Essens
Ein Synonym für Nahrungsmittel ist Lebensmittel, und das verweist darauf, dass es beim Essen nicht nur um die Befriedigung physischer Grundbedürfnisse geht. Die „Mittel zum Leben“ schließen neben der rein körperlichen die geistige, emotionale und soziokulturelle Dimension des Menschseins mit ein. In der Art und Weise, wie Menschen essen, lassen sich Rückschlüsse auf die jeweilige Gesellschaft und Kultur ziehen.
In der Grill- und BBQ-Szene nehmen das gemeinsame Essen, ja oft sogar das gemeinsame Zubereiten, und der qualitative Aspekt der Lebensmittel einen sehr hohen Stellenwert ein. Am Beispiel Fleisch lässt sich festhalten, dass dabei nicht immer nur das teuerste Stück des Tieres (Filet) im Vordergrund steht. Viele neu aufgewertete Cuts waren früher ein Arme-Leute-Essen beziehungsweise sie wurden zu Wurstwaren verarbeitet. „From nose to tale“, also das ganze Tier zu verarbeiten und aufzuwerten, ist bereits seit Längerem auch in der Spitzengastronomie angekommen. Lässt sich der Wert eines Lebensmittels für den Menschen wirklich nur über den Preis abbilden? Die allzu bekannten Rabattschlachten im Lebensmittelhandel haben eine Zeit lang dazu geführt, dass „billig“ als Wert angesehen worden ist: Viel für wenig Geld! Die Produktionsfaktoren (Arbeitsbedingungen, Qualitätsstandards, Umweltschutz, Nachhaltigkeit u. v. m.) wurden nicht wirklich hinterfragt.

„Genuss“, Lithographie von Theodor Hosemann (um 1860)

Inzwischen ist deutlich geworden, dass die gesamte Produktions- und Lieferkette für „billig“ letztlich einen hohen Preis bezahlt, und man sollte sich wirklich fragen, ob wir uns das auf Dauer leisten wollen und können. Der Handel hat endlich erkannt, dass das leicht in eine Sackgasse führen kann und setzt verstärkt auf Regionalität, Tierhaltungsstandards, Umwelt und Nachhaltigkeit. Gerade die Corona-Krise hat den Ab-Hof- und Biovermarktern viele neue Kunden beschert. Homeoffice bedingt entfällt oft der schnelle Businesslunch in der Kantine. Neben to go und Bringdiensten versorgt man sich doch gerne wieder mehr selbst, denn schon der Lebensmitteleinkauf von Individualprodukten liefert ein „Highlight“, ein Einkaufserlebnis in einer von Ausgangsbeschränkungen geprägten Zeit. Beim wöchentlichen Einkauf für die häusliche Zubereitung wird vermehrt qualitativ Hochwertiges gesucht. Dieses Rollback hat viele Gründe.

Der Wert des Genusses
In jeder Kultur gibt es kulturbestimmte Vorschriften, wer, wie, mit wem, wo und wann was Essen darf – oder nicht. Diese sind teilweise religiös motiviert (beispielsweise Trennung von Milch und Fleisch bei der Speisenzubereitung im Judentum, Schweinefleischverbot im Islam, Mehlspeisen oder Fisch am Freitag im Katholizismus etc.). Aber auch geschlechtsspezifische Merkmale finden sich bei der Mahlzeit: getrenntes Essen von Männern und Frauen (mit Kindern), bestimmte Hochzeitsriten in Asien, vorbehaltene Speisen für Männer, Speisetabus für schwangere Frauen etc. Wie und wo wir essen, sagt etwas über den sozialen Status innerhalb einer Gruppe und den kulturellen Kontext aus: Essen mit Messer und Gabel, wie wird der Löffel gehalten, oder essen alle mit der Hand aus einer Schüssel? Fällt man auf, wenn man nicht mit Stäbchen essen kann, wenn die Finger benutzt werden, auch wenn es kein Fingerfood gibt? Welche Körperhaltung nimmt man bei einem gemeinsamen Mahl ein: auf dem Boden, draußen am Lagerfeuer oder in einem Esszimmer auf Stühlen sitzend, an Stehtischen stehend, oder gar liegend wie die „alten Römer“? Auch das, was wir gerne essen, was wir genießen möchten und das, wovor wir uns ekeln, ist individuell, kulturell, sozial und historisch verschieden und verändert sich ständig. Als Kind hat man sich oft vor Lebensmitteln geekelt, die heute gerne gegessen werden und umgekehrt. Spätestens an der Geschichte vom Suppenkasper wird klar, dass Essen und die Genussfähigkeit pädagogische Instrumente in der Erziehung sind. Fragt man Menschen, was für sie Genuss bedeutet, erhält man sehr unterschiedliche Antworten. Was für den einen genießenswert ist, ist für den anderen extrem ekelhaft (z. B. Hirn oder Rüsselscheibe vom Schwein etc.). Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Dennoch gibt es so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner des Genusses.

Römisches Gastmahl: In der Antike wurde das Essen gerne in einer liegenden Position genossen. (Quelle: akg-images/dpa)

Zentrale Merkmale des Genusses

Die Zeit. Genuss hat etwas mit Langsamkeit zu tun, nicht mit Schnelligkeit oder Hektik. Beim Genießen ist man ganz bei sich, es ist quasi eine Kommunikation mit dem Gegessenen und sich selbst.

Eine gewisse Ordnung ist eine notwendige Bedingung, um genießen zu können. Eine gedeckte Tafel lädt eher zum Genießen ein als ein Tisch, auf dem sich z. B. Wäsche stapelt, Zeitungen oder die Schulsachen der Kinder herumliegen, alles voll steht, so dass man kaum sein Essgeschirr ordentlich vor sich hinstellen kann. Selbst am Lagerfeuer will man das gemeinsame Essen in der Runde genießen und ordnet sich und das Essen um die Feuerstelle. Fliegen, Mücken, Lärm oder herumspringende Hunde stören den Genuss.

Die Umgebungsqualität (das Ambiente) müssen mit der eigenen Stimmung in Einklang gebracht werden. Essen „to go“ ist nicht wirklich genussfähig. In überfüllten U-Bahnen mal schnell eine Semmel zu essen, hat etwas zu tun mit einem zu erreichenden Sättigungsgefühl, aber nicht mit Genuss. Zeit haben und in Ruhe genießen zu können sollen ein Wohlgefühl auslösen, das aus der Enge des Alltäglichen führt und eine entspannte Weite spüren lässt. Das Ambiente, das Klima, die geografische Lage – all diese Faktoren beeinflussen unsere Genuss-Lust!

Die Kommunikation. Mit dem Mund essen wir, dabei geht etwas in unseren Körper hinein; mit dem Mund sprechen wir, dabei geht etwas aus unserem Körper hinaus. Lebensmittel und Gedanken hängen quasi an unseren Lippen. Es ist fast unmöglich, sich bei einem genussvollen Mahl zu streiten. Gleichzeitig ist eine misslungene Speise oft genug Anlass für schlechte Laune und Beschimpfungen (nicht nur der Köche). Deswegen ist es bei Familienfesten wie Weihnachten so wichtig, ein gutes Essen aufzutischen und gemeinsam zu genießen. Wenn jeder für sich allein so vor sich hin essen würde (auch wenn man am gleichen Tisch sitzt), entstünde keine gute Stimmung, kein gemeinschaftliches Gefühl – keine genussvolle Atmosphäre. Gefühle gehen durch den Magen und den Darm!

Das richtige Maß. Alles, was begehrenswert ist, was man genießen kann, wird ekelig, wenn es zu viel des Guten ist. Überdruss, Überfluss, Völlerei sind die Kehrseite des Genusses! Ekel ist ein Gefühl der extremen Enge. Man kann in einer Situation, in der man sich ekelt, nicht kommunizieren. Das Ekelhafte hat keine Ordnungsstruktur, man möchte weg aus der ekelhaften Situation, raus aus der Enge, die Umgebung kann gar nicht mehr richtig wahrgenommen werden, weil man so vom Ekel gefangen ist. Der Ekel ist das Gegenteil von Genuss.

Die Esskultur. Für die meisten Menschen ist Genuss mit zubereiteter Nahrung verbunden. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier wesentlich dadurch, dass er sein Essen nicht mehr roh frisst, sondern kocht, brät, bäckt, grillt und dann isst bzw. genießt. Es ist sicher nicht weit hergeholt, dass die Kultivierung des Essens damit begann, dass irgendwann einer unserer frühen Vorfahren Geschmack fand am vielleicht zufällig in die Glut gefallenen Stück Fleisch. Dann wäre für die Menschwerdung des Affen ein „Grillmeister“ verantwortlich. Zubereitete Nahrung lässt sich außerdem besser verdauen — ein wesentlicher Aspekt des nachhaltigen Genusses.


FAZIT:

  • Genussvolles Essen braucht Zeit und ist daher Teil einer Entschleunigungsstrategie.
  • Genuss entsteht durch Erlebnisse und Erfahrungen, die positiv besetzt sind. Das beginnt bereits beim Umfeld
    (exogene Reize). Später setzen sich die positiven Eindrücke über Geschmackserlebnisse im Mund und andere Sinneswahrnehmungen in unserem Körper fest.
  • Den Wert des Genusses vor, während und nach dem Essen kann man nicht hoch genug einschätzen, er hebt die Stimmung.
  • Der Mensch lässt sich nicht nur auf reine Körperlichkeit reduzieren. Körper, Geist und Seele gehören zwingend
    zusammen. Das ist der Grund, warum Menschen immer auf der Suche nach Genusserlebnissen sind.

 

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