Gegen das Kükenschreddern!

Natürlich sind saftige Brathähnchen das ganze Jahr über ein Gaumenschmaus. Aber gerade in der Sommerzeit greifen wir vermehrt zu Hähnchenfleisch, weil es hervorragend zu frischen Salaten und knackigem Gemüse passt und – sollte nach dem Grillen wirklich noch ein kleines Stück übriggeblieben sein – am nächsten Tag kalt einen leckeren Snack für die Mittagspause ergibt. Wenn dann das Huhn auch noch tiergerecht aufwachsen durfte, ist der Genuss erst richtig perfekt. Doch Trendbegriffe wie tiergerecht oder nachhaltig nehmen immer mehr Produzenten für sich in Anspruch und selbst die großen Discounter sind mittlerweile auf diesen lukrativen Zug aufgesprungen und haben eigene Labels entwickelt, die eine tier- bzw. artgerechte Haltung versprechen.

Inga Günther, Geschäftsführerin Ökologische Tierzucht GmbH, züchtet das Ökohuhn der Zukunft.

Noch nie war das Angebot an ganzen Brathähnchen, Hähnchenteilen und Eiern so groß wie heute und dazu gehört, dass sich die Geflügelwirtschaft mittlerweile zum am stärksten industrialisierten Teil der Landwirtschaft entwickelt hat. Lebensmittel kommen massenhaft auf den Markt und werden zu Billigpreisen verramscht. Weil wir, die Verbraucher, das anscheinend so wollen. Und das „Einzelprodukt“ – wir reden hier immerhin von Lebewesen – wirft für den Produzenten so wenig ab, dass sich die erhoffte Wirtschaftlichkeit nur durch enorme Absatzmengen, gepaart mit Spezialisierung auf einzelne Produktionsbereiche und äußerst schlanken Prozessen, erzielen lässt. Da ist es nachvollziehbar, dass in diesem System die Priorität deutlich auf der Effektivität der Produktionsleistung liegen muss. Was wiederum den Nährboden für die Horrorbilder von gerupften, blutenden oder toten Hühnern bereitet, die uns auch dank Social Media täglich aufs Neue erreichen. Und das betrifft nicht nur die konventionell gehaltenen Tiere, sogar im Bio-Bereich sind diese Bilder leider nicht unbekannt. Hier sind die Haltungsbedingungen im Vergleich zwar verbessert worden und dem Tierwohl wird beispielsweise mit Auslauf, Sandbädern und einer geringeren Besatzdichte in den Ställen eher Rechnung getragen, aber es gelten häufig ebenfalls die Gesetze der Gewinnmaximierung, die den Punkten Nachhaltigkeit und Tierwohl entgegenstehen. Wer mit den industriellen Strukturen dieser Haltungsformen ein Problem hat, findet mittlerweile einige Alternativen, über die er ein Huhn beziehen und sich schmecken lassen kann. Natürlich nicht zu Dumpingpreisen, aber dafür ethisch vertretbar.

Von Bruderhähnen und Zweinutzungsrassen

In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es unterschiedliche Organisationen, die sich für die Aufzucht von Bruderhähnen einsetzen – damit sind die männlichen Küken aus der Legehennenzucht gemeint, denen in der Regel ein äußerst kurzes Leben beschieden ist. Rund 48 Millionen von ihnen werden in Deutschland als sogenannte Eintagsküken jedes Jahr getötet, da sie weder Eier legen noch als Masthuhn rentabel sind. Alltägliche Praxis, unabhängig davon, ob Mast und Eierproduktion nach konventionellen oder ökologischen Richtlinien erfolgen. FIRE&FOOD hat sich bereits vor vier Jahren mit diesem Thema beschäftigt, und damals waren verschiedene Bundesländer auf dem Weg, dieser Praxis einen Riegel vorzuschieben. Doch Gerichte hatten dementsprechende Erlasse, wie beispielsweise vom Verbraucherministerium in NRW auf den Weg gebracht, wieder gekippt. Aber nicht unbedingt zum Nachteil des Tierwohls, wie Kritiker des Gesetzentwurfs deutlich machten. Sie befürchteten nämlich, dass bei einem strikten Tötungsverbot das Problem einfach nur ins Ausland verlagert würde, indem die Eier vor dem Schlupf dorthin transportiert würden und nur die Legehennen als Jungtiere ihre Reise zurück nach Deutschland anträten. Die Bruderhahninitiativen wie beispielsweise BID (Bruderhahn Initiative Deutschland), Stolze Gockel, Basic Bruderherz-Initiative, Alnatura Bruderküken Initiative, Haehnlein oder Hahn im Glück gehören zu den Pionieren in diesem Bereich und bieten zumeist Biohöfen, die zumindest nach der EU-Öko-Verordnung zertifiziert sind, an sich an ihren Programmen zu beteiligen.

Das Prinzip ist bei fast allen gleich – auf die Eier der Legehennen werden ein paar Cent pro Stück aufgeschlagen, womit die Aufzucht der Brudertiere quersubventioniert ist. Die Bruderhähne haben – je nach Initiative – zwischen 15 und 25 Wochen Zeit, ihr Schlachtgewicht zu erreichen. Zum Vergleich: Konventionelle Masthühner müssen das in fünf Wochen schaffen. Annalina Behrens, Mitbegründerin des Haehnlein-Konzepts in Mecklenburg-Vorpommern, weist auf die geschmacklichen Vorzüge dieser Methode hin: „Bruderhahn-Fleisch ist dadurch viel feiner marmoriert und aromatischer als Fleisch von Turbohähnchen.“ Erhältlich sind die Eier und das Fleisch aus den genannten und weiteren Initiativen in Bio- und Hofläden, bei Anbietern von Gemüsekisten und in einigen Biosupermärkten. Eine Anbieterliste nach Postleitzahlgebieten führt BID unter www.bruderhahn.de/haendlerliste. Aber auch die konventionellen Supermarktketten bleiben nicht untätig. Rewe hat als erstes Unternehmen aus diesem Bereich 2016 zusammen mit Erzeugern das Pilotprojekt Spitz & Bube Freilandhaltungs-Eier initiiert, bei dem die Bruderküken ebenfalls mit aufgezogen werden – im Verhältnis zu konventionellen Masthähnchen wird ihnen die zweifache Zeit bis zum Schlachttermin zugestanden.

Das Prinzip der BID unterstützt auch Inga Günther, Geschäftsführerin Ökologische Tierzucht GmbH (ÖTZ). Die Initiative wird von den Bio-Verbänden Bioland und Demeter getragen. Sowohl die BID als auch die ÖTZ sehen das Aufziehen der Brüder von Legehybrid-Hennen nur als Übergangslösung. Sie setzen auf Zweinutzungsrassen, bei denen sich die Lege- sowie die Fleischleistung möglichst die Waage halten. Keine einfache Aufgabe, da es einen genetischen Widerspruch zwischen Legeleistung und Fleischansatz gibt. Was bedeutet, dass die Zucht auf reine Legeleistung den Fleischansatz reduziert und umgekehrt. Eigenschaften, die sich die Agrarkonzerne seit etwa 60 Jahren bei der Spezialisierung ihrer Hybridhühner zunutze machen. Eben die Konzerne, die die Hühnerzucht auf Kosten der Artenvielfalt und zugunsten einer auf Hochleistung ausgerichteten Ei- und Hühnerfleischproduktion monopolisiert haben. Auf diesen Genpool müssen derzeit die meisten Bio-Anbieter mangels Alternativen zurückgreifen – zumindest diejenigen, die ebenfalls auf Hochleistung setzen. Insgesamt vier weltweit tätige Unternehmen beherrschen den Markt: EW Group, Hendrix Genetics, Groupe Grimaud und Tyson. Die Hühner aus deren Zuchtprogrammen können ihre Hochleistungseigenschaften nur sehr begrenzt weitervererben, weshalb jede neue Generation wieder aus diesen Zuchtbetrieben erworben werden muss. Ein ewiger und für die genannten Konzerne sehr lukrativer Kreislauf. Nur wenige Länder haben Energie darauf verwandt, ihre eigenen, bewährten Rassen vor dieser Entwicklung zu schützen. In Frankreich zum Beispiel gehören dazu die diversen Arten der Bressehuhn-Familie. Aus dieser Linie stammen die Bresses Gauloises, die ersten Hühner, mit denen Inga Günther 2012 ihre Zucht von Zweinutzungshühner in Überlingen am Bodensee begonnen hat. 2015 konnte die neu gegründete ÖTZ von der Domäne Mechtildshausen zwei weitere Herden übernehmen. Ein Glücksfall: Der hessische Bioland-Betrieb hatte über Jahre hinweg mit Geflügelzüchtern der Universität Halle zusammengearbeitet. Das genetische Material der Hühner stammte aus den Beständen der staatseigenen DDR-Zucht und war somit unbeeinflusst von westlichen Konzernen. Die Agrarwissenschaftlerin ist stolz darauf, dem „Zweinutzungshuhn“ heute schon recht nahe zu sein, doch „züchterische Weiterentwicklung ist ein immerwährender Prozess – auch hier ist der Weg das Ziel“, betont Günther im Gespräch. Bei den von ihr gezüchteten Hühnern sind sowohl die Hennen zum Eierlegen als auch die Hähne als Masttiere wirtschaftlich eigenständig. Der Expertin ist es wichtig, dass die Tiere als Zweinutzungshühner nicht nur Fleisch und Eier produzieren können. Sie sollen zudem gesund und widerstandsfähig sein und mit heimischem Futter vom Hof zurechtkommen. Futter, mit dem ein Masthuhn nicht überleben würde. „Seit BSE wird dem Huhn eine vegetarische Ernährung auferlegt, aber dies ist nicht artgerecht. Als Ersatz für tierisches Eiweiß wird proteinreiches Futter wie etwa Soja aus Übersee eingesetzt, da das billig ist und dem tierischen Eiweiß am nächsten kommt. Ich wünsche mir, dass das Huhn langfristig wieder als das gesehen wird, was es ist: Huhn und Hahn als perfekter Resteverwerter innerhalb eines vielfältigen landwirtschaftlichen Kreislaufs und kein Nahrungsmittelkonkurrent des Menschen“, erklärt Günther ihre Motivation, das Zweinutzungshuhn zu ihrer Lebensaufgabe zu machen.

Eine Frage der Ethik und der Moral

Es ist wirklich spannend, wie viel sich in den letzten vier Jahren schon bewegt hat, um das ethisch zweifelhafte Kükentöten zu vermeiden. Die Bundesregierung setzt noch auf einen anderen Weg bei diesem Thema, wie Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner Anfang April dieses Jahres in einem Statement verlauten lassen hat: „Männliche Küken zu töten, weil Sie das falsche Geschlecht haben, ist moralisch nicht hinnehmbar. Wir müssen das Töten männlicher Eintagsküken mit einer praxistauglichen Alternative schnellstmöglich beenden – ich begrüße alle Initiativen, die uns diesem Ziel näherbringen, wie zum Beispiel die aktuellen Forschungsergebnisse der TU Dresden. Mein Haus geht den Weg der Forschung: Seit 2008 fördern wir die Geschlechtsbestimmung im Hühnerei mit rund fünf Millionen Euro. Mit unserer Unterstützung sind zwei vielversprechende Verfahren entstanden, die nun von den Projektpartnern zur Praxisreife gebracht werden.“ Hoffen wir, dass diese Verfahren bald Praxisreife haben werden. Doch an der Lebenssituation der ausgebrüteten Turbohennen wird sich dadurch nichts ändern. Wir Verbraucher sind also mal wieder gefragt – stimmen wir doch mit unserem Kaufverhalten darüber ab, ob sich in Richtung Tierwohl etwas ändern soll.

Siegbert Gerster tritt für eine ethisch vertretbare Hühnerhaltung ein und bietet interessierten Verbrauchern an, die Patenschaft für ein Huhn zu übernehmen. Sie profitieren im Gegenzug von den Eiern, Zur Nachahmung empfohlen, wie wir meinen. www.unser-familienhuhn.de